Auf mittelalterlichen Karten findet man bei unerforschten Gebieten den einschüchternden Satz «Hic sunt dracones», zu Deutsch «Hier sind Drachen». Wer heute noch derartige Ungeheuer treffen möchte, muss zur phantastischen Literatur greifen. Oder man begibt sich ins Restaurant Gleis 1 in Uerikon, wo wahrhaft monströse Cordon bleus serviert werden. Ob ich den 2 Kilogramm-Giganten mit dem Besteck erschlagen konnte oder eine schmerzhafte Niederlage einstecken musste, lest ihr weiter unten.
Als das Blech hingestellt wird, werden mir ob dem darauf liegenden Riesen-Cordon-bleu die Knie weich und ich muss leer schlucken. Ein angriffslustiges Zischen und Blubbern scheint dem monumentalen Panadenberg zu entweichen, die Nachricht ist klar: Was sich unsere Mägen hier antun wollen, ist kein Kindergeburtstag. Etwas eingeschüchtert aber nichtsdestotrotz begierig stechen wir mit den Gabeln hinein und… Aber halt! Man kann nicht einfach nach Uerikon spazieren und ein gigantisches Cordon bleu verspeisen. Solch ein episches Unterfangen bedarf angemessener Vorbereitung. Drehen wir die Uhr also noch einmal zurück bis auf eine Woche vor dem eigentlichen Besuch.
Begonnen hat die ganze Sache wie so oft mit einem vielversprechenden Tipp aus dem Bekanntenkreis: Dort im Restaurant Gleis 1 seien Cordon bleus eine Spezialität und sehr gut, man müsse sogar vorbestellen. Ob ich denn nicht einmal vorbeigehen und probieren wolle. Will der schreibende Geniesser natürlich schon, weshalb er sich als Erstes mit der Website des Lokals bekannt macht. “Die besten und grössten Cordon bleu’s in vier Grössen und 8 Sorten” schallt es einem dort entgegen, scheint also die richtige Adresse zu sein. Die verschiedenen Varianten stellen eher traditionsbewusste Gäste zufrieden als diejenigen, welche grosse Innovationen oder gar lokale Spezialitäten suchen. Liebhaberinnen von Kalbfleisch gehen übrigens leer aus, alle Cordon bleus werden ausschliesslich vom Schwein zubereitet. Ganz unten kriechen meine Augen dann über einen Eintrag, der den Puls sofort in die Höhe schlagen lässt: Alle gelisteten Fleischtaschen können in der ungesund klingenden “Fat Tire”-Grösse von 2 Kilogramm geordert werden. Für den Spass muss man sich aber mit jemand anderem zusammenschliessen, was bei genauerer Überlegung eine vernünftige Bedingung darstellt. Gruppenchat sei Dank finden sich innerhalb kürzester Zeit einige Begleitpersonen, darunter auch ein Mitesser für das “Fat Tire”-Abenteuer. Netterweise darf ich die Sorte frei auswählen. Die Füllungen mit Gorgonzola kommen gar nicht in Frage, schlussendlich duellieren sich “Bärner” und “Hot” um die Ehre. Bei Letzterem kommen zwar leise Zweifel auf, ob die Schärfe auf Dauer nicht eintönig wird, trotzdem präsentiert sich der Mix aus Scharfer Salami, Käse, Schinken, Zwiebeln sowie Chilischoten als die spannendere Variante. Die restliche Tischrunde begnügt sich mit Cordon bleus der Grösse Medium (ca. 260 Gramm), Reservation und Vorbestellung gebe ich telefonisch an das äusserst nette Restaurantteam weiter. Nun heisst es warten, fasten und die verbleibenden Tage zählen.
Endlich ist es so weit, nur noch eine kleine Schiffsreise an das gegenüberliegende Ufer des Zürichsees trennt mich vom lang ersehnten Festmahl. Vom Schiffssteg in Wädenswil aus kann ich den Zielort bereits erspähen und behalte ihn während der Überfahrt fest im Blick. Bei der Weiterreise am Bahnhof Männedorf hat sich das Schicksal etwas besonders Heimtückisches überlegt, der verheissungsvolle Geruch nach gebratenen Grillgüggeli streicht um meine Nasenflügel und legt olfaktorische Daumenschrauben an. Dass ich den Verkaufsstand nicht sehen kann, macht die Situation umso anstrengender. Der leere Magen spult vor meinem inneren Auge pausenlos Bilder von unzähligen Spiessen ab, auf denen sich knusprige Hühnchen dicht an dicht drehen. Nur der eintreffende Zug rettet mich vor einer Verzweiflungstat, der knurrende Bauch lässt sich aber nicht mehr beruhigen. Gute Sache also, dass das Restaurant in Uerikon nur einen Katzensprung entfernt vom Gleis auf uns wartet.
Eigenwillig, bunt, aber gemütlich: Die Einrichtung des Speiseraumes bietet uns gleich genügend Gesprächsstoff für die ersten Minuten. Mir gefallen insbesondere die warmen Töne der gelben und dunkelroten Wände. Die aufgehängten Bilder punkten mit der kreativen Präsentation von altbekannten Oldtimer-Motiven. Am eindrucksvollsten ist jedoch ohne Zweifel der prächtige Kronleuchter, welcher die Theke und deren Inhalt gebührend ausleuchtet. Aus einem Lautsprecher dudelt Radio Zürisee und wird dafür sorgen, dass unser Bedarf nach Durchschnitts-Popmusik am Ende des Besuchs mehr als ausreichend gestillt wurde. Da mein Cordon-bleu-Partner offenbart, dass er heute Blut spenden war sind wir zuversichtlich, die 2 Kilo in einer Sitzung zu schaffen. Aber gemach, gut Ding will Weile haben und bis so ein prächtiges Stück fertig zubereitet ist, braucht es nun mal seine Zeit. Ein frisch geschenkter Abrisskalender mit Fakten über die Welt der Weine kommt da gerade richtig und entpuppt sich als unbezahlbare Quelle für dumme Sprüche und zugegebenermassen verblüffende Informationen. Wusstet ihr zum Beispiel, dass das Wort “Alkohol” ursprünglich aus dem Arabischen stammt?
Es dauert schon einige Momente und Kalenderblätter, bis die Teller mit unseren vorbestellten Sorten am Tisch eintreffen. Mental habe ich mich intensiv auf den Moment vorbereitet, trotzdem haut mich die schiere Grösse des servierten “Fat Tire” Cordon bleus beinahe aus den Latschen. Mein Bruder und ich blicken einander an, lachen nervös und machen uns an die Arbeit. Welch passender Begriff, den während bei normalen Portionen eine fliessende Bewegung ausreicht, um einen Bissen zu erhalten, muss bei diesem Monster mit viel Armschmalz gesäbelt werden. Glücklicherweise ist dies allein dem Umfang und nicht etwa der Beschaffenheit des Schweinefleisches geschuldet. Dieses beeindruckt nämlich mit einer unerwarteten Zartheit, welche sich bei jedem Einzelnen der unzähligen Stücke zeigt. Weiter oben bei der Panade trübt sich der gute Eindruck wegen der dickeren Textur etwas, für meinen Geschmack sind gewisse Stellen schon ein wenig zu stark von Butter aufgeweicht und deshalb pampig. Der Knuspergrad ist trotzdem weitgehend ansprechend, etwas mehr Würze wäre hingegen auch willkommen. Der verwendete Käse wurde auf der Speisekarte nicht deklariert, ob des süssen, kribbelnden Geschmacks und der klebrigen Konsistenz tippe ich aber auf Emmentaler. Von der anderen Seite des Blechs wird vehement widersprochen, dies sei doch eindeutig Gruyère und nichts anderes. Von welcher Seite des Röstigrabens das Milchprodukt auch stammt, es hinterlässt leider keinen prägnanten Eindruck und verschwindet in der Gesamtbetrachtung rasch in den Hintergrund. Ganz vorne im Scheinwerferlicht tummelt sich dafür wie erwartet der feurige Grundton der Kreation, Salami sowie Chilischoten geben ihr Bestes und heizen der Mundhöhle tüchtig ein. Übertrieben pikant wird es für geübte Scharfessende jedoch nicht, es geht dank einigen fruchtigen Noten der roten Schoten auch nuancierter zu- und her als initial befürchtet. Die süsslichen Zwiebelfäden scheinen da ebenfalls ihren Beitrag zu leisten.
Dass der anfangs rasch vorankommende Vorstoss zur Mitte des Kolosses allmählich ins Stocken gerät, ist auch eine Schuld der Pommes Frites. Unsere gesamte Tischgruppe bedient sich an einer grossen Schüssel in der Mitte, die einfach nicht leer werden will. Einerseits toll, weil die goldenen Stifte ausgezeichnet knuspern und dank ausgewogenem Einsatz von Salz hervorragend schmecken. Andererseits nehmen sie so wertvollen Platz im Magen weg, der eigentlich für das “Fat Tire” vorgesehen war. Als wir besiegt Messer und Gabel von uns strecken, ist der initiale Bergrücken auf die Grösse eines handelsüblichen Cordon bleus zusammengeschrumpft. Klar, für die Auszeichnung als Futterhelden reicht diese Leistung bei weitem nicht. Dafür ist die Vorfreude auf ein baldiges Restezmittag umso grösser. Rundherum sind auch bei den mittelgrossen Portionen noch kleine Stücke übriggeblieben, die Reaktionen fallen aber durchs Band weg positiv aus. Jemand kommt tatsächlich noch auf die tollkühne Idee, einen Blick in die Dessertkarte zu verlangen. Es bräuchte jetzt äusserst schlagkräftige Argumente, um meinen Bauch zur Aufnahme von weiteren Esswaren zu überzeugen. Die übersichtliche Auswahl an Süssspeisen enthält zwar durchaus Verlockendes, aber schlussendlich siegt die Vernunft. Statt Nachtisch ist also Nachhauseweg angesagt, den wir im Anschluss an die Begleichung der moderaten Rechnung auch umgehend antreten. Am Tag danach überkommt mich beim Anblick der Fotos des Abends gleich wieder ein Hüngerchen, bis zum nächsten Cordon bleu in Übergrösse wird wohl nicht allzu viel Zeit verstreichen.
Sie sind eine Klasse für sich, diese Riesen-Cordon-bleus, und zweifellos ein passender Test für das Handwerk eines Küchenteams. Dieser Logik folgend hat das Restaurant Gleis 1 mit einer guten Note bestanden. Insbesondere hat mich beeindruckt, dass man keinerlei Abstriche bei der Qualität des Schweinefleisches oder der Füllung hinnehmen muss, das hohe Niveau wird trotz der imposanten Grösse beibehalten. In Sachen Käse sehe ich aber noch grosses Verbesserungspotenzial, eine rezentere Sorte hätte dem Geschmacksbild noch eine weitere reizvolle Facette hinzufügen können. Die Reise nach Uerikon ist trotzdem eine Überlegung wert, auch wenn ihr nur ein “normales” Cordon bleu verköstigen möchtet.
Bewertung
Fat Tire Cordon bleu «Hot»
6/10, «Gut»
Detailbewertung
Kategorie | Punkte |
---|---|
Panade | 6/10 |
Fleisch | 7/10 |
Füllung | 6/10 |
Gesamtgeschmack | 7/10 |
Speisekarte | 8/10 |
Hinweise zum Bewertungsschema: Bewertungsschema – Cordonblog
Infos zum Restaurant
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Mhhhm grad Lust uf nomal eh Portion… schön gsi!
Ja findi au, danke fürs mitcho!
Sehr wortgewandte, faire und unterhaltsame Rezension. Gratulation!
Vielen Dank! 🙂